Der gemeinnützige Verein SOS Balkanroute veröffentlichte im April 2023 vor der Inbetriebnahme eines Gefängnisses im Flüchtlingslager Lipa in Bosnien Herzegowina mehrere kritische APA-OTS-Aussendungen. Petar Rosandić, Obmann des Vereins, bezeichnete das Gefängnis in einem Thread auf Twitter (X) als „österreichische Guantánamo“. Dadurch sollten mögliche, befürchtete Missstände aufgezeigt und die Inbetriebnahme des Gefängnisses verhindert werden.
Kritisiert wurde, dass der Haftkomplex ohne Baugenehmigung für ein Gefängnis, ohne rechtliche Grundlage für längere Anhaltungen, ohne Einbindung der Kantonsregierung und gegen den Willen des Ministers für Menschenrechte von Bosnien und Herzegowina erbaut wurde.
Das International Center for Migration Policy Development (ICMPD), der Erbauer des besagten Gefängnistrakts, klagte Petar Rosandić und SOS Balkanroute auf Unterlassung des „Guantanamo-Vergleichs“ und der Behauptung, ICMPD verantworte rechtsgrundlose Inhaftierungen von Geflüchteten und/oder Pushbacks von Geflüchteten durch die kroatische Polizei bzw. deren Verbringung in das Flüchtlingslager „Camp Lipa“.
Es handelte sich offenkundig um eine SLAPP–Klage (strategic lawsuit against public participation), die einen „chilling effect“ erzeugen sollte.
Die Klage wurde am 18.07.2023 vom Handelsgericht Wien abgewiesen. Der „Guantanamo-Vergleich“ ist zulässig und von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt. Es ist Kernaufgabe einer NGO auf Missstände hinzuweisen, dies kann auch reißerisch erfolgen. Die freie Meinungsäußerung in einer demokratischen Gesellschaft ist gerade im vorliegenden Fall immanent wichtig. Es gäbe mehr als Indizien, dass die EU und/oder Regierungen der Mitgliedsstaaten geltendes Recht missachten und umgehen oder dies zumindest dulden. Die Kritik war zulässig.
In dem Urteil heißt es hierzu wörtlich:
„Vor dem Hintergrund, dass konkrete Anhaltspunkte (insbesondere Presseartikel und auch gerichtliche Entscheidungen) dafür vorliegen, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten versuchen, Asylsuchende ohne förmliche Asylverfahren aus dem Gemeinschaftsgebiet abzuschieben, bevor (oder obwohl) diese einen Asylantrag gestellt haben mit Finanzierung und unter Federführung der EU im grenznahen Niemandsland in Bosnien und Herzegowina ein Lager errichtet wurde, abgeschnitten von der Außenwelt dort von der Klägerin ein Gefängnistrakt errichtet wird auf Betreiben (auch) der EU gegen den Willen von Teilen der Regierung des Staates Bosnien und Herzegowina und der kantonalen und lokalen Behörden ohne Baugenehmigung und ohne dass es eine rechtliche Grundlage für die Anhaltung gibt, um „Fake-Asylsuchende festzuhalten, bis man sie in ihre Herkunftsländer deportieren kann“ (so sinngemäß der zuständige EU-Kommissar) bzw zu Zwecken, deren Festsetzung den Behörden überlassen wird (so der Standpunkt der Klägerin), qualifiziert das Gericht den gezogenen Vergleich zwar als überzeichnet, aber im Kern als treffend und daher insgesamt nicht zu beanstanden.“
[…]
„Gerade der Umstand, dass Staaten und eine Supranationale Organisation wie die EU sich der Klägerin als ausführendes Organ in einem derart sensiblen Bereich bedienen, begründet das gesteigerte allgemeine Informationsinteresse. Es geht nicht an, dass durch die Zwischenschaltung einer Organisation das Handeln der EU und von Mitgliedsstaaten dem notwendigen Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit entzogen werden könnte. Die Behandlung von Asylsuchenden und das Inhaftieren von Menschen ist nie Privatsache.“
„Selbst wenn man abweichend vom Standpunkt des Gerichts die Äußerungen der Beklagten als ehrverletzend und den Vergleich mit Guantánamo als überzogen qualifizierte, sind diese Äußerungen daher im Rahmen einer Abwägung der Interessen im Sinne der Jud des EGMR gerechtfertigt, der bei politischen Diskussionen aus Art 10 EMRK auch ein Recht auf ehrverletzende Meinungsäußerungen ableitet“
Den Vorwurf, dass ICMPD Pushbacks betreibe, haben die Beklagten gar nicht behauptet, weswegen auch dieser Punkt abgewiesen wurde.
ICMPD hat noch in der Verhandlung Berufung angekündigt, aber keine erhoben. Die Abweisung der Klage ist rechtskräftig.
Links dazu:
ICMPD gibt auf: Keine Berufung gegen SOS Balkanroute im SLAPP-Verfahren, „österreichisches Guantanamo“ war berechtigte Kritik | SOS Balkanroute, 13.12.2023 (ots.at)
„Guantánamo“-Vergleich von SOS Balkanroute laut Gericht zulässig – Inland – derStandard.at › Inland